das ist nicht kalifornien
VERBINDLICH IN LOSEN VERBÄNDEN
Die Innenstädte sterben aus. Sind wie ausgetauscht. Wo einst der Einzelhandel war sind heute die immer gleichen großen Ketten. Doch auch die Flagshipstores stehen leer. Ausgehöhlt vom Onlinehandel. Der öffentliche Raum liegt brach und niemand wagt sich noch vor die Tür. Zu ähnlich sehen die Innenstädte aus. Zu groß die Angst darin verloren zu gehen. Kann man sich doch nur noch am Dialekt der Obdachlosen orientieren. Sie sind als einzige geblieben. Sie und ein paar Kids, die sich auf ihren Skateboards den öffentlichen Raum zurückerobern. Das Theaterstück erzählt vom sozialen Abstiegs und dem Aufstieg einer Gegenkultur.
I
warum muss man das alles
das ganze leben auf einmal leben
denkst du
warum nicht eine pause machen
alles anhalten
die miete einfrieren
für die wohnung
den shop
die ausstehenden zahlungen
alles ins eisfach
einfach aussteigen
verschwinden
unter der weichen kapuze deines hoodies
du solltest unten sein
vorm laden stehen
den rollladen hochfahren
wie oft bist du aufgestanden
jetzt bleibst du liegen
du liegst auf dem sofa
streckst dich aus
legst eine alte vhs ein
spuhlst zurück und
löst dich in der unschärfe alter erinnerungen auf
die welt zurechtgebogen in einem fisheye-objektiv
als sie noch offen
vor dir
unter deinen füßen
als sie dir zu füßen lag
du kannst die leichten erschütterungen spüren
die lücken zwischen den gehwegplatten
bevor alles fertig verlegt war
fest verfugt
wie die vibration der rollen
in die achsen übergeht
von den achsen in das holz
und durch die schuhe in deine füße
von den zehen bis in die kopfhaut
die ganze stadt geht durch deinen körper
du spürst jeden stein
und jeden riss im asphalt
weißt du noch
wieviele bretter dir gebrochen sind
bei dem versuch
dir diese stadt zu erschließen
deinen platz zu finden
in der welt
wie oft du dich verkantet hast
verkannt hast
das ist nicht kalifornien
das ist deutsche kleinstadt
an der du dich aufreibst
die hände aufreisst
du tauschst deine haut gegen schotter ein
streuschutt der in deinen wunden eitert
du kannst ihn wochenlang
in einem bläulichen schimmer
unter deiner haut wandern sehen
die stadt hinterlässt ihre spuren an dir
dabei willst du deine spuren hinterlassen in der stadt
dass man dich auf der strasse erkennt
dass du herausstichst aus den massen
die sich durch die engen strassen drängen
auf ihrem langen marsch durch die fußgängerzonen
die störst du nicht in ihrer shoppingliturgie
wie sie dir drohen das ordnungsamt zu rufen
das ordnungsamt das mit der polzei droht
und die polizei nur so
wir können auch eure eltern rufen
da könnt ihr lange rufen
denkst du
sie schicken dich nach hause
aber wo das ist wissen sie nicht
zuhause ist für dich etwas da vor dir liegt
eine zukunft die noch nicht eingetreten ist
die du eintreten musst
eine tür die sich von innen öffnet
holz dass du von außen aufbrichst
aber soweit ist es noch nicht
und bis es soweit ist
bleibst du wo du bist
bleibst draußen in der innenstadt
der alsphalt ist von der kälte aufgeplatzt
risse so breit
du kannst deine finger darin vergraben
dann rufst du shiran an
es ist der letzte tag
morgen geht dein part in den schnitt
das video
wie lange ihr daran gefilmt habt
und ohne deinen letzten trick
ohne einen richtigen ender
ändert sich nichts
die luft im raum
den du betrittst
wie man dich ansieht
dass du gesehen wirst
nichts ändert sich
wenn du diesen einen trick
heute nacht nicht auf die kamera kriegst
ihr schleicht also zurück
nach ladenschluss
ihr baut einen generator auf
leuchtet die anfahrt aus
das treppengeländer glänzt
in der tiefsten nacht
mitten in der stadt
ein paar qaudratmeter hellster tag
eine kalifornische sonne
die ihr aufgebaut habt
du stehst im baustellenlicht
neben dem handrail
das dir bis zur hüfte geht
so hoch bist du noch nie gesprungen
aber du sagst dir
wenn du willst
dann kommst du auf die höhe
du kommst so hoch du willst
sagst du dir
shiran guckt dich
durch die kamera
guckt er dich an
ihr wisst
vor dir ist noch niemand
niemand ist bisher dieses handrail gefahren
aber du siehst schon die spuren
die dein deck hinterlässt
wenn du mit deinem holz
über das unberührte rail slidest
jetzt stehst du in der dunkelheit
ziehst dir die mütze vom kopf
vor dir ein paar quadratmeter licht
hälst dir die mütze vors gesicht
dass man nicht sieht
dass du mit dir sprichst
dass du immer mit dir selber sprichst
wenn die gefahr am größten ist
das ist keine angst
sagst du dir
dass ist nur die vorfreude
auf das leben
das vor dir liegt
wenn du diesen trick
nur diesen einen trick jetzt stehst
und als du anfährst
so lang ist die anfahrt nicht
läufst du
springst aufs brett
pushed zwei mal
ein fuß auf dem brett
rutschfest im griptape
der andere stößt sich vom boden ab
es ist so ruhig
nichts zu hören
nur der wind in den ohren
kein geräusch das du nicht selber wärst
streuschutt
der unter deinen rollen knirscht
fast fühlt es sich an
als würdest du auf der stelle stehen
und unter dir dreht sich die welt
rollt dir entgegen
so weich sind deine beine jetzt
wie sollst du daraus die kraft nehmen
über deine hüfte zu springen
denkst du noch
und stößt dich ab
das holz schlägt auf dem boden auf
dein fuß schleift über das brett
zieht es mit
du stehst in der luft
das rail schiebt sich unter dein brett
du stehst
tatsächlich
du stehst drauf
stehst drüber
stehst in dem trick
gerade überm brett
deine arme
die du streckst
du kannst es gar nicht fassen
aber dann kommt der boden
du verkanntest dich
eine rolle die genau auf eine rille
zwischen zwei gehwegplatten trifft
du fällst
und rollst dich ab
du hast es fast
fast hast du es geschafft
denkst du
hast du gedacht
dass du es fast geschafft hast
II
das winterwetter bereitet dir anstrengende träume
die bizarren wendungen am morgen
wenn du versuchst den streuwagen
der sich unter deinem fenster
über das kopfsteinpflaster der fußgängerzone wälzt
in deine träume einzubauen
das hupen dass die obdachlosen weckt
die im streuradius schlafen
findet sich in den buzzern einer gameshow wieder
die du moderierst
einhundert leute haben wir gefragt
aber als du auf deine karten siehst
sind die fragen verwischt
pappe die sich in deinen schwitzigen händen wellt
nennen sie etwas das
oder jemanden der
nennen sie
du versuchst eine frage zu finden
auf die antworten die dir bevorstehen
so allgemein und maßlos
dass die ganze welt darin aufgehen würde
die kandidaten stehen dir gebannt gegenüber
in ihren schlafsäcken wirkten sie wie sich nach einem saftigen blatt streckende raupen
und als du an diesem morgen aus einer dumpfen applauskonserve aufwachst
da ist nichts zu hören
kein geräusch, das du nicht selber wärst
nur das kissen raschelt unter deinem kopf
du schlägst die decke zurück
das knirschen des laminats unter deinen nackten füßen
du steht im wohnzimmer
du hast die dings
die
Irgendwas hast du vergessen
und stellst den heißen kaffee auf den couchtisch
es ist kalt in der wohnung
so kalt
aber kein dampf steigt auf
du schaust dem milchschaum zu
wie er in sich zusammenfällt
das durchgesessene sofa auf dem du sitzt
im rücken die flügeltür zum flur
und über dir hängen staubfäden von der decke
irgendwas ist anders an diesem morgen
es ist immer noch dunkel draußen
oder schon wieder
es ist so früh am morgen
oder spät in der nacht
wenn du ehrlich bist
weißt du nicht mehr wie spät es ist
oder welcher tag
als du aufwachst
geblendet
gerädert
du renderst
du kannst deine spiegelung in der scheibe sehen
als würdest du nicht nach draußen
sondern eine umgedrehte
eine spiegelverkehrte version von dir
vor dem fenster stehen
und von außen
in die wohnung schauen
auf dich
und das leben
das ja trotzdem irgendwie weitergehen muss
du siehst dich
ein faltiges gesicht
unter der straffen kapuze eines hoodies
als hätte man deinen vater
in die klamotten geseteckt
so alt bist du jetzt
älter als dein vater je geworden ist
in der spiegelung der scheibe
siehst du dich
wie du dich nach der kaffeetasse streckst
die du ins fenster werfen willst
aber du greifst sie nicht
du greifst ins nichts
weil da keine kaffeetasse ist
der glastisch vor dir
ist leer
du siehst den tisch
und durch das glas kannst du den teppich sehen
die fasern und den dreck darin
verpackungsreste
chips und tabak
ganz deutlich siehst du den streuschutt
den du reingetragen hast
wie durch ein brennglas
aber das glas
durch das du siehst
das siehst du nicht
als ob es verschwunden ist
der ganze tisch ist weg
vorsichtig fasst du dahin
wo er doch gerade noch gewesen ist
und fasst ins leere
deine finger versinken
in den fasern des teppichs
du fasst es nicht
siehst in der fensterscheibe
siehst du dich
wie du auf dem teppich kniest
den kopf in den nacken legst
das regal an der wand gegenüber
wo dein zeug drin steht
die skateboardvideos
und deine alten vhs
leer
oder vielmehr
fehlt es ganz
die nackte wand ragt dir entgegen
wie konnte dir das entgehen
du warst doch da
jeden tag
verlierst den boden
unter deinen füßen
fehlt das laminat
wo das holzimitat gewesen ist
stehst du im streuschutt jetzt
auf rissigem aspahlt
aber wer sollte eine strasse durch
durch deine wohnung legen
das knirschen unter deinen füßen
als du auf die wand zugehst
die löcher ansiehst
durch die ganze wand kannst du sehen
du siehst die innenstadt dahinter
wie sie beleuchtet ist
das licht blendet dich
du siehst das loch
aber die wand nicht mehr
jetzt stehst du da
da stehst du jetzt
du siehst deine speigelung in der scheibe
wie du dich nach der decke streckst
dass über dir keine decke ist
nur der nackte himmel
im schaufenster
siehst du dich
eine raupe die sich nach einem saftigen blatt streckt
einhundert leute haben wir gefragt
du verstehst die frage
aber findest die antwort nicht
das ist deutsche kleinstadt
SO VIELE AUGEN DRAUF
Die Gedichte sind nach dem Erasure-Verfahren entstanden und haben zwei Zeitungsartikel und die dazugehörigen Kommentarspalten zur Grundlage, die sich mit dem Thema Kindesmisshandlung beschäftigen.
I
es ist früher nachmittag. ein anonymer spender, die sogenannte sonne treibt sich rum. ein paar stockwerke fernab der gesellschaft, ein bekannter brennpunkt. zeitweise scheint das panorama betroffen, die blumen nach dem beispiel von blumen.
II
wir wollten nur rasch den himmel aufrollen. die kinder, sie luden sich gegenseitig zu geburtstagen ein. geräumige gesichter über und über mit schokolade beschmiert. der kopf oder so ähnlich, den sie davontrugen, das knie. auch im gesicht ein kleiner ratscher. das war, wie die hämatome entstanden. das sich selbst bezichtigte licht unter aufsicht. die rückführung, von der immer feststand, dass sie eines tages kommen würde, war an diesem tag greifbar.
III
wir hatten menschen, die das persönlich nahmen. die schon vorher, von ausreichend einzelheiten betroffen, fakten vernachlässigten. vermutlich aber kleine menschen. das problem ist, dass manche kinder eben wachsen. kosmos ist nur zu achtzigprozent kosmos und das kind ist ein mädchen ist ein manager der nerven. blank, wenn man es stemmen muss. so gelangten wir bei der rückführung eines tages zu den neuesten kommentaren zurück.
***
Malte Abraham, geboren 1988 in Hamburg. Studierte Sprachkunst in Wien und Szenisches Schreiben an der UdK in Berlin. Für den Deutschlandfunk hat er sein Theaterstück DIE WEITE WEITE SOFALANDSCHAFT als Hörspiel produziert und war damit für das Hörspiel des Jahres und den Prix Europa nominiert. In der Spielzeit 19/20 war er Hausautor am Theater Koblenz. Zuletzt entstand für das Theater Münster der Filmchen VERBINDLICH IN LOSEN VERBÄNDEN. Darüber hinaus betreibt er mit dem Kollektiv Kabeljau & Dorsch eine Late-Night-Show an der Volksbühne Berlin und einen Podcast im Internet.