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Poetry

Malte Abraham. Wie Ich Wurde Was Ich Nicht Bin


das ist nicht kalifornien

das ist nicht kalifornien

VERBINDLICH IN LOSEN VERBÄNDEN

Die Innenstädte sterben aus. Sind wie ausgetauscht. Wo einst der Einzelhandel war sind heute die immer gleichen großen Ketten. Doch auch die Flagshipstores stehen leer. Ausgehöhlt vom Onlinehandel. Der öffentliche Raum liegt brach und niemand wagt sich noch vor die Tür. Zu ähnlich sehen die Innenstädte aus. Zu groß die Angst darin verloren zu gehen. Kann man sich doch nur noch am Dialekt der Obdachlosen orientieren. Sie sind als einzige geblieben. Sie und ein paar Kids, die sich auf ihren Skateboards den öffentlichen Raum zurückerobern. Das Theaterstück erzählt vom sozialen Abstiegs und dem Aufstieg einer Gegenkultur.


I

warum muss man das alles

das ganze leben auf einmal leben

denkst du

warum nicht eine pause machen

alles anhalten

die miete einfrieren

für die wohnung

den shop

die ausstehenden zahlungen

alles ins eisfach

einfach aussteigen

verschwinden

unter der weichen kapuze deines hoodies

du solltest unten sein

vorm laden stehen

den rollladen hochfahren

wie oft bist du aufgestanden

jetzt bleibst du liegen

du liegst auf dem sofa

streckst dich aus

legst eine alte vhs ein

spuhlst zurück und

löst dich in der unschärfe alter erinnerungen auf

die welt zurechtgebogen in einem fisheye-objektiv

als sie noch offen

vor dir

unter deinen füßen

als sie dir zu füßen lag

du kannst die leichten erschütterungen spüren

die lücken zwischen den gehwegplatten

bevor alles fertig verlegt war

fest verfugt

wie die vibration der rollen

in die achsen übergeht

von den achsen in das holz

und durch die schuhe in deine füße

von den zehen bis in die kopfhaut

die ganze stadt geht durch deinen körper

du spürst jeden stein

und jeden riss im asphalt

weißt du noch

wieviele bretter dir gebrochen sind

bei dem versuch

dir diese stadt zu erschließen

deinen platz zu finden

in der welt

wie oft du dich verkantet hast

verkannt hast

das ist nicht kalifornien

das ist deutsche kleinstadt

an der du dich aufreibst

die hände aufreisst

du tauschst deine haut gegen schotter ein

streuschutt der in deinen wunden eitert

du kannst ihn wochenlang

in einem bläulichen schimmer

unter deiner haut wandern sehen

die stadt hinterlässt ihre spuren an dir

dabei willst du deine spuren hinterlassen in der stadt

dass man dich auf der strasse erkennt

dass du herausstichst aus den massen

die sich durch die engen strassen drängen

auf ihrem langen marsch durch die fußgängerzonen

die störst du nicht in ihrer shoppingliturgie

wie sie dir drohen das ordnungsamt zu rufen

das ordnungsamt das mit der polzei droht

und die polizei nur so

wir können auch eure eltern rufen

da könnt ihr lange rufen

denkst du

sie schicken dich nach hause

aber wo das ist wissen sie nicht

zuhause ist für dich etwas da vor dir liegt

eine zukunft die noch nicht eingetreten ist

die du eintreten musst

eine tür die sich von innen öffnet

holz dass du von außen aufbrichst

aber soweit ist es noch nicht

und bis es soweit ist

bleibst du wo du bist

bleibst draußen in der innenstadt

der alsphalt ist von der kälte aufgeplatzt

risse so breit

du kannst deine finger darin vergraben

dann rufst du shiran an

es ist der letzte tag

morgen geht dein part in den schnitt

das video

wie lange ihr daran gefilmt habt

und ohne deinen letzten trick

ohne einen richtigen ender

ändert sich nichts

die luft im raum

den du betrittst

wie man dich ansieht

dass du gesehen wirst

nichts ändert sich

wenn du diesen einen trick

heute nacht nicht auf die kamera kriegst

ihr schleicht also zurück

nach ladenschluss

ihr baut einen generator auf

leuchtet die anfahrt aus

das treppengeländer glänzt

in der tiefsten nacht

mitten in der stadt

ein paar qaudratmeter hellster tag

eine kalifornische sonne

die ihr aufgebaut habt

du stehst im baustellenlicht

neben dem handrail

das dir bis zur hüfte geht

so hoch bist du noch nie gesprungen

aber du sagst dir

wenn du willst

dann kommst du auf die höhe

du kommst so hoch du willst

sagst du dir

shiran guckt dich

durch die kamera

guckt er dich an

ihr wisst

vor dir ist noch niemand

niemand ist bisher dieses handrail gefahren

aber du siehst schon die spuren

die dein deck hinterlässt

wenn du mit deinem holz

über das unberührte rail slidest

jetzt stehst du in der dunkelheit

ziehst dir die mütze vom kopf

vor dir ein paar quadratmeter licht

hälst dir die mütze vors gesicht

dass man nicht sieht

dass du mit dir sprichst

dass du immer mit dir selber sprichst

wenn die gefahr am größten ist

das ist keine angst

sagst du dir

dass ist nur die vorfreude

auf das leben

das vor dir liegt

wenn du diesen trick

nur diesen einen trick jetzt stehst

und als du anfährst

so lang ist die anfahrt nicht

läufst du

springst aufs brett

pushed zwei mal

ein fuß auf dem brett

rutschfest im griptape

der andere stößt sich vom boden ab

es ist so ruhig

nichts zu hören

nur der wind in den ohren

kein geräusch das du nicht selber wärst

streuschutt

der unter deinen rollen knirscht

fast fühlt es sich an

als würdest du auf der stelle stehen

und unter dir dreht sich die welt

rollt dir entgegen

so weich sind deine beine jetzt

wie sollst du daraus die kraft nehmen

über deine hüfte zu springen

denkst du noch

und stößt dich ab

das holz schlägt auf dem boden auf

dein fuß schleift über das brett

zieht es mit

du stehst in der luft

das rail schiebt sich unter dein brett

du stehst

tatsächlich

du stehst drauf

stehst drüber

stehst in dem trick

gerade überm brett

deine arme

die du streckst

du kannst es gar nicht fassen

aber dann kommt der boden

du verkanntest dich

eine rolle die genau auf eine rille

zwischen zwei gehwegplatten trifft

du fällst

und rollst dich ab

du hast es fast

fast hast du es geschafft

denkst du

hast du gedacht

dass du es fast geschafft hast


II

das winterwetter bereitet dir anstrengende träume

die bizarren wendungen am morgen

wenn du versuchst den streuwagen

der sich unter deinem fenster

über das kopfsteinpflaster der fußgängerzone wälzt

in deine träume einzubauen

das hupen dass die obdachlosen weckt

die im streuradius schlafen

findet sich in den buzzern einer gameshow wieder

die du moderierst

einhundert leute haben wir gefragt

aber als du auf deine karten siehst

sind die fragen verwischt

pappe die sich in deinen schwitzigen händen wellt

nennen sie etwas das

oder jemanden der

nennen sie

du versuchst eine frage zu finden

auf die antworten die dir bevorstehen

so allgemein und maßlos

dass die ganze welt darin aufgehen würde

die kandidaten stehen dir gebannt gegenüber

in ihren schlafsäcken wirkten sie wie sich nach einem saftigen blatt streckende raupen

und als du an diesem morgen aus einer dumpfen applauskonserve aufwachst

da ist nichts zu hören

kein geräusch, das du nicht selber wärst

nur das kissen raschelt unter deinem kopf

du schlägst die decke zurück

das knirschen des laminats unter deinen nackten füßen

du steht im wohnzimmer

du hast die dings

die

Irgendwas hast du vergessen

und stellst den heißen kaffee auf den couchtisch

es ist kalt in der wohnung

so kalt

aber kein dampf steigt auf

du schaust dem milchschaum zu

wie er in sich zusammenfällt

das durchgesessene sofa auf dem du sitzt

im rücken die flügeltür zum flur

und über dir hängen staubfäden von der decke

irgendwas ist anders an diesem morgen

es ist immer noch dunkel draußen

oder schon wieder

es ist so früh am morgen

oder spät in der nacht

wenn du ehrlich bist

weißt du nicht mehr wie spät es ist

oder welcher tag

als du aufwachst

geblendet

gerädert

du renderst

du kannst deine spiegelung in der scheibe sehen

als würdest du nicht nach draußen

sondern eine umgedrehte

eine spiegelverkehrte version von dir

vor dem fenster stehen

und von außen

in die wohnung schauen

auf dich

und das leben

das ja trotzdem irgendwie weitergehen muss

du siehst dich

ein faltiges gesicht

unter der straffen kapuze eines hoodies

als hätte man deinen vater

in die klamotten geseteckt

so alt bist du jetzt

älter als dein vater je geworden ist

in der spiegelung der scheibe

siehst du dich

wie du dich nach der kaffeetasse streckst

die du ins fenster werfen willst

aber du greifst sie nicht

du greifst ins nichts

weil da keine kaffeetasse ist

der glastisch vor dir

ist leer

du siehst den tisch

und durch das glas kannst du den teppich sehen

die fasern und den dreck darin

verpackungsreste

chips und tabak

ganz deutlich siehst du den streuschutt

den du reingetragen hast

wie durch ein brennglas

aber das glas

durch das du siehst

das siehst du nicht

als ob es verschwunden ist

der ganze tisch ist weg

vorsichtig fasst du dahin

wo er doch gerade noch gewesen ist

und fasst ins leere

deine finger versinken

in den fasern des teppichs

du fasst es nicht

siehst in der fensterscheibe

siehst du dich

wie du auf dem teppich kniest

den kopf in den nacken legst

das regal an der wand gegenüber

wo dein zeug drin steht

die skateboardvideos

und deine alten vhs

leer

oder vielmehr

fehlt es ganz

die nackte wand ragt dir entgegen

wie konnte dir das entgehen

du warst doch da

jeden tag

verlierst den boden

unter deinen füßen

fehlt das laminat

wo das holzimitat gewesen ist

stehst du im streuschutt jetzt

auf rissigem aspahlt

aber wer sollte eine strasse durch

durch deine wohnung legen

das knirschen unter deinen füßen

als du auf die wand zugehst

die löcher ansiehst

durch die ganze wand kannst du sehen

du siehst die innenstadt dahinter

wie sie beleuchtet ist

das licht blendet dich

du siehst das loch

aber die wand nicht mehr

jetzt stehst du da

da stehst du jetzt

du siehst deine speigelung in der scheibe

wie du dich nach der decke streckst

dass über dir keine decke ist

nur der nackte himmel

im schaufenster

siehst du dich

eine raupe die sich nach einem saftigen blatt streckt

einhundert leute haben wir gefragt

du verstehst die frage

aber findest die antwort nicht


das ist deutsche kleinstadt

das ist deutsche kleinstadt

SO VIELE AUGEN DRAUF

Die Gedichte sind nach dem Erasure-Verfahren entstanden und haben zwei Zeitungsartikel und die dazugehörigen Kommentarspalten zur Grundlage, die sich mit dem Thema Kindesmisshandlung beschäftigen.


I
es ist früher nachmittag. ein anonymer spender, die sogenannte sonne treibt sich rum. ein paar stockwerke fernab der gesellschaft, ein bekannter brennpunkt. zeitweise scheint das panorama betroffen, die blumen nach dem beispiel von blumen.


II
wir wollten nur rasch den himmel aufrollen. die kinder, sie luden sich gegenseitig zu geburtstagen ein. geräumige gesichter über und über mit schokolade beschmiert. der kopf oder so ähnlich, den sie davontrugen, das knie. auch im gesicht ein kleiner ratscher. das war, wie die hämatome entstanden. das sich selbst bezichtigte licht unter aufsicht. die rückführung, von der immer feststand, dass sie eines tages kommen würde, war an diesem tag greifbar.


III
wir hatten menschen, die das persönlich nahmen. die schon vorher, von ausreichend einzelheiten betroffen, fakten vernachlässigten. vermutlich aber kleine menschen. das problem ist, dass manche kinder eben wachsen. kosmos ist nur zu achtzigprozent kosmos und das kind ist ein mädchen ist ein manager der nerven. blank, wenn man es stemmen muss. so gelangten wir bei der rückführung eines tages zu den neuesten kommentaren zurück.

***

Malte Abraham, geboren 1988 in Hamburg. Studierte Sprachkunst in Wien und Szenisches Schreiben an der UdK in Berlin. Für den Deutschlandfunk hat er sein Theaterstück DIE WEITE WEITE SOFALANDSCHAFT als Hörspiel produziert und war damit für das Hörspiel des Jahres und den Prix Europa nominiert. In der Spielzeit 19/20 war er Hausautor am Theater Koblenz. Zuletzt entstand für das Theater Münster der Filmchen VERBINDLICH IN LOSEN VERBÄNDEN. Darüber hinaus betreibt er mit dem Kollektiv Kabeljau & Dorsch eine Late-Night-Show an der Volksbühne Berlin und einen Podcast im Internet.

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