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Liebe vergelten

Leon Ospald14/03/23 17:221.1K🔥

Auf dem Klingelschild stand deutlich der Name. Aus dem Treppenhaus fiel Licht nach draußen. Gläser waren in die Tür eingelassen. Irgendein Song, etwas Dämliches, das wir mit sechzehn gehört hatten, drang aus einem Fenster. Dritter Stock, fiel mir ein, Nichtraucherwohnung. Wahrscheinlich hatten die anderen mittlerweile sowieso aufgehört. Die Sektflasche klebte in meiner Handfläche, so kalt war es. Lange konnte ich nicht mehr vor der Tür stehen bleiben. Irgendjemand würde kommen. Jemand, den ich kannte. Sicher in einer Gruppe. Sie würden die Klingel drücken und nach oben gehen. Ich bildete mir ein, sie schon in der Nebenstraße Lachen zu hören.

Ich lief um den Block. Einmal, zweimal. Die Flasche hielt ich weiter fest. Bei jeder Ecke blieb ich stehen und lauschte. Dann stand ich wieder auf der anderen Straßenseite, hinter einem Baum und schaute zu der Tür rüber und zu den Fenstern hoch. Das Küchenfenster ging zur Straße und das Wohnzimmer mit dem Balkon auch. Aber da stand niemand. Vielleicht war es ihnen zu kalt, oder es rauchte wirklich niemand mehr. Zwischendurch konnte ich doch jemanden sehen. Beim Aufstehen, auf dem Weg zum Buffet in der Küche oder zur Toilette, dachte ich mir. Einmal sah ich Pia. In einem Kleid, geschminkt, mit großen Ohrringen. Und einmal stand David am Fenster und schaute raus. Er konnte mich nicht sehen, aber ich sah, dass er ein Hemd mit Weste trug. Wenn es ein Motto zu der Party gab, hatte ich es verpasst. Ich trug meine Jeans, die im Schritt schon geflickt worden war und einen Wollpullover. Ich stellte die Sektflasche auf eine Bank, die um den Baum herum gebaut war. Fünf Euro hatte sie gekostet, sogar etwas mehr. Mehrmals war ich das Regal abgegangen und hatte die Preise verglichen. Zuerst hatte ich den billigsten nehmen wollen, ihn dann aber zurückgestellt. Man sollte nicht sofort am Geschenk erkennen können, in welcher Lage ich war.

Ich rauchte. Die Wolken aus meinem Mund gerieten in der Kälte noch dichter als gewöhnlich. Mehr Gäste kamen und gingen rein. Manche kannte ich. Von oben hörte ich jedes Mal die Begrüßung. Alle standen auf, stellte ich mir vor, umarmten sich, und suchten nach Gesprächsthemen. Wieder sah ich Pia. Ihr Kopf glühte rot, wie früher. Sie öffnete plötzlich die Balkontür. Halb blieb sie drinnen und streckte nur die Hand mit der Zigarette raus. Nach vier Zügen schnippte sie den Stummel weg und machte die Tür wieder zu.

Wieder lief ich durch die Straßen. Ich wollte irgendwohin. An einen Ort, der mich aufnehmen und verschlucken konnte. In meinem Kopf graste ich die Stadt nach einem Ort ab, der das konnte. Ich fand keinen. Überall könnten mir Menschen begegnen, die mich kannten und die mir Fragen stellen würden. Es war die Zeit zwischen den Jahren, wenn alle wieder kommen. Eigentlich schon das Ende dieser Zeit, des ganzen Jahres: eine Party noch feiern und morgen würde jeder wieder in sein Leben fahren, in das ihm niemand folgen konnte. Bei mir war das zumindest so. Mir konnte niemand folgen. Ich konnte nicht einmal von diesem Leben erzählen, in das ich morgen wieder fahren würde. Es war nicht da, nicht greifbar, einfach nicht da. Ich ließ den Sektkorken knallen. Aus einer Gasse jubelte eine kleine Menschentraube.

Irgendwann stand ich wieder unter dem Baum. Die Flasche war leer und ich ließ sie auf der Bank stehen. Ich ging über die Straße und drückte die Klingel neben dem Schild „Marder / Fux“. Ich sagte meinen Namen nicht als der Türsummer ging. Oben stand David.

„Du bist es!“ Rief er mir zu und nahm mich in den Arm. Sofort hatte ich seinen Geruch in der Nase. Wir drückten uns fest und klopften uns auf den Rücken — vielleicht zu fest und zu oft.

„Du bist eiskalt. Komm. Du hast Glück: vom Buffet ist noch was da.“ Er sah gut aus. Etwas dicker als früher. Aber gut.

„Es ist Pavel,“ rief er in die Wohnung und ein „ah, Pavel“ kam aus dem Wohnzimmer zurück.

„Zieh die Schuhe am besten aus. Nimm dir, was du willst. Hier stehen Getränke und Essen und alles.“

Wir standen im Flur voreinander.

„Schön.“ Sagte ich. „Wie geht’s dir denn?“

„Gut. Wirklich. Und dir?“

„Auch.“

„Du musst gleich erzählen. Wir spielen gerade noch Werwolf.“„Schön,“ sagte ich wieder.

„Komm. Zeig dich den anderen.“

Der Flur war lang. Es war warm. Meine Augen tränten. Im Wohnzimmer saßen sie um einen flachen Tisch herum. Auf Kissen, Stühlen und einer Couch mit beigem Stoffbezug.

„Pavel. Wie schön.“ Veronika drückte mich, wie David, etwas zu fest. Auch sie hatte zugenommen. Oder es lag an ihrem Kleid, das alles an ihr drall und aufgedunsen aussehen ließ.

„Was seid ihr alle so schick?“ Fragte ich und winkte ins Zimmer. Tatsächlich hatten alle irgendeinen Fummel an.

„Der Vagabund ist da!“ Matze und Thomas grinsten fett von der Couch rüber. Auch sie trugen bloß Jeans. Allerdings ohne Flicken. Ich hatte die beiden nie leiden können. Jetzt freute ich mich, nicht der einzige ohne Anzug zu sein. Schnell machte ich die Runde: drückte jeden kurz, sagte, wie sehr ich mich freute, bedankte mich für die Einladung und schaffte es sogar, Pia wie nebenbei hinters Ohr zu küssen. Dann war ich fertig. Ich stand mitten im Zimmer. Alle Gesichter waren zu mir gedreht.

„Und?“ Fragte jemand. „Wie ist das Leben?“

Ich erzählte irgendeine blöde Anekdote, sie lachten und schauten wieder weg. Niemand sah mich wirklich an. Nicht in mein Gesicht. Nicht auf die Löcher in meinen Socken. Ich wusste nicht weiter, verhaspelte mich und sagte etwas wie: „Bald fängt eine neue Zeit an für mich.“

Matze rief: „Hey Pavel, auf dich! Auf die neue Zeit“ Sie reckten mir ihre Gläser zu. Dann war wieder Stille. Ich ging aufs Klo. Ohne noch etwas zu sagen. Ich stand im Bad hinter der Tür und wartete darauf, dass die Gespräche wieder anfingen. Es dauerte. Das Schweigen waberte aus dem Wohnzimmer unter dem Türspalt durch ins Badezimmer. Dann hörte ich Pia lachen. Leise nur. Aber das genügte. Das Spiel um den Werwolf, der unschuldige Dorfbewohner killt, ging weiter.

Das Bad war riesig. Mit Fußbodenheizung und einer Badewanne für zwei. Ich schaute mich im Spiegel an. Ja, gut. Ich sah scheisse aus. Die Ringe unter den Augen wurden lila und irgendwie waren meine Backen verschwunden. Zwischen Backenknochen und Kiefer fiel die Haut nach innen. Ich wich dem Blick aus dem Spiegel aus und beschaute lieber das Bad. Es war sauber. Nicht mal im Abfluss ein Haar oder ein Rand von grauem Dreck. Es roch nach Citrus: die Duftstäbchen standen im Regal. Handtücher, Seifen — teure, gute Seifen, Schlafmittel, Öle, Cremen, Schminke, Antidepressiva, Homöopathische Pillen, alles stand bereit. Ohne Staub oder klebrigem Rand. Helles Holz, sauber, duftend: ein Bad direkt aus dem Katalog. Unter dem Waschbecken stand eine Plastikkiste. Ein Handtuch lag darüber. Ich zog es zur Seite. Wäsche. Dreckwäsche. Ich griff in den Haufen und zog eine Unterhose und ein T-Shirt von David heraus. Schweiß und Urin. Ich wühlte weiter. Ein rotes Spitzenhöschen mit weißem, getrocknetem Rest. Eine Krawatte. Blau mit etwas, das aussah wie Eigelb — auch getrocknet. Sportsachen. Socken. Ich stopfte alles wieder in die Kiste und legte das Handtuch drüber. Die Hände wusch ich mir nicht.

In der Küche war niemand. Ohne Appetit schaufelte ich von allem etwas auf einen Teller und legte nochmal nach, als mir einfiel, dass ich morgen zurückmusste und kaum Geld für gutes Essen ausgeben konnte. Ein Nudel — Pesto Monat erwartete mich. Vielleicht auch ein Eier — Kartoffel Monat. Zur Abwechslung. Dann aß ich. Hastig. Ohne zu kauen, als ob mich jemand beobachtete. Ich aß, bis der Teller leer war, nahm nochmal nach, aß wieder ohne zu schmecken was es war. Dann trank ich Bier. Zwei Flaschen. Langsam wurde mir wieder warm.

„Hier versteckst du dich. Warum machst du nicht auf, wenn’s klingelt?“ Pia stand im Flur und drückte den Türsummer.

„Ich hatte Hunger. Wer kommt denn noch?“

„Na Alle.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. So hatte sie mich immer angesehen, wenn ich mal wieder etwas Wichtiges verpasst hatte.

„Alle. Na wie toll,“ sagte ich, schärfer als nötig.

„Du kannst gehen, wenn es dir nicht passt. Ich feiere jetzt. Mit den anderen.“ Sie nahm sich eine Flasche Bier und ging zur Wohnungstür. Die Begrüßung ging wieder los. Ich warf mich mitten hinein. Ich trank, umarmte bekannte Körper, schaute in Gesichter, die mir nichts mehr bedeuteten, hörte Geschichten zu, die mich entweder langweilten oder mich neidisch machten und wurde nicht richtig betrunken. Mir gelang es, auf die Fragen zu meinem Leben ebenso oberflächlich zu antworten, wie sie gestellt worden waren. Ich redete überhaupt sehr wenig. Ich hörte zu und das funktionierte. Ohne viel von mir zu zeigen, erfuhr ich umso mehr. Die Wohnung war inzwischen voll. Lauter Menschen, die gemeinsam aufgewachsen waren. Viele hatte ich völlig vergessen. Alle redeten und erzählten bloß von sich. Von ihren Jobs, Wohnungen, Reisen, Babys, Eltern, Partys, Zielen, Wünschen, Beziehungen — die Geschichten glichen sich in ihrer Normalität und Zufriedenheit. Viele waren nie weggezogen oder waren wiedergekommen. Aus pragmatischen Gründen. Den Job durch die Eltern bekommen und mit deren Hilfe jetzt eigene Kinder großziehen. „In der Heimat geht alles leichter,“ sagte Maja zu mir und stützte sich an mir ab. Sie lallte. Sie kippte den Sekt und drückte mir das Glas in die Hand. „Holst du mir einen neuen? Ich will tanzen.“

Im Wohnzimmer tanzten sie wirklich. Wie früher. Nur die Musik musste leiser sein. In der Küche stand David.

„Was hast du mit Maja geredet?“ Gar nicht mehr freundschaftlich hielt er meinen Arm fest.

„Nichts. Nichts Besonderes. Sie ist betrunken.“

„Oh man ja. Sie trinkt viel in letzter Zeit.“ Er schaute den Flur entlang zu den Tanzenden ins Wohnzimmer. Kurz öffnete sich etwas zwischen uns. Ein Fenster zurück. In eine Zeit, in der wir alles voneinander gewusst hatten.

„Rauchen wir eine? Draußen?“ Ich wollte dieses Fenster aufstoßen oder mich durch den Spalt zwängen und alles erzählen. Die ganze Scheisse der letzten Jahre einem Freund aufs Herz werfen und Verständnis und Wärme dafür verlangen.

„Nee lass mal. Maja mag es nicht, wenn ich rauche. Ich geh mal wieder zu ihr.“ Er klatschte mir auf die Schulter und ging zu den anderen. Schnell nahm ich mir ein neues Bier.

Die Musik war scheisse. Zu laut um sich zu unterhalten und zu leise, um nicht reden zu müssen. Matze brach als Erster das Verbot und zündete eine Zigarillo an. Am anderen des Raumes qualmte es kurz darauf auch. Ich machte mit. Um meine Finger zu beschäftigen und als Berechtigung weiter in der Ecke stehen zu können. Aber da war noch mehr: ich wollte, dass etwas passierte. Etwas Ungeplantes. Etwas, das eine Wunde in den glatten Abend schlagen könnte. Drei Zigaretten reichten für einen ersten Kratzer: Maja bemerkte das Vergehen und stürzte sich auf Matze — zum Glück nicht auf mich. Sie schlug ihm die Zigarillo aus der Hand. Die Glut flog auf das Sofa und brannte ein Loch in den fleckenfreien Überzug. Jemand reagierte und kippte Bier, viel Bier auf die kleine Rauchfahne. Maja heulte auf. David bugsierte sie ins Bad, die beiden schlossen sich ein und Matze, das ewige Aas, grinste fett und zündete eine neue Pall Mall an. Einige lachten und die Musik wurde wieder aufgedreht. Ich roch meine Chance, den Abend zu zerreißen.

„Na Matze, wie läuft’s bei dir?“ Ich warf mich neben ihn auf den Bierfleck.

„Ey Vagabund. Lass mal anstoßen“. Er war voll.

„Wann hast du heute angefangen zu saufen?“ Schrie ich ihm ins Ohr. „Ist noch nicht mal elf?“

„Ich überstehe Weihnachten nur besoffen,“ schrie er zurück. „Ich fange am 22. an und höre am ersten auf. Anders geht nicht.“

„Was machst du jetzt? Beruflich?“

Er legte mir seine Hand in den Nacken und zog mich näher ran.

„Ich kaufe und ich verkaufe.“„Was denn?“

„Alles. Was du willst.“

„Wie läuft’s denn?“

Als Antwort zog er eine Geldklammer aus der Tasche und blätterte in den Scheinen.

„Hast du lange nicht gesehen, oder?“ Er schlug mir die Scheine vor den Bauch.

„Wirklich nicht. Hartz IV. Seit einem Jahr.“

„Dachte mir sowas schon. Siehst scheisse aus.“

„Danke. Und du bist fett geworden.“

Matze lachte und küsste mich auf die Backen. Dann schrie er: „Geil. Du bist immer noch so!“

„Trinken wir noch was?“

„Alles alle.“ Er schwenkte den letzten Schluck in seiner Flasche. „Die haben nicht mit so vielen gerechnet.

„Sollen wir was holen?“

„Alkohol?“ Er grinste wieder. „Oder noch was anderes?“

„Hast du?“

„Hier.“ Er drückte mir drei Scheine in die Hand. „Hol was von der Tanke. „Ich hab den Rest hier.“ In seiner Hand wedelte er mit einem kleinen Tütchen.

Eine Stunde später war es kurz vor Zwölf und wir standen im Flur und suchten Jacken und Schuhe zusammen. Für Neujahr wollten wir auf die Brücke. Hatte Maja entschieden. Mit dem Alkohol von der Tanke und dem Stoff von Matze war die Party weiter eskaliert. Es war überall geraucht worden, das Schlafzimmer war gestürmt worden und die Ersten hatten sich übergeben müssen. Alles wir früher. Ich hatte von den drei Scheinen nur hochprozentiges geholt und das Wechselgeld behalten. Fast achtzig Euro. Auf der Treppe musste Matze gestützt werden. Er hatte das Geld bereits vergessen.

Draußen war es kalt. Es schneite und der Wind zischte heftig durch die Straßen. Ich fühlte mich klar und nüchtern. Sogar ruhig. Ich lief hinter der anderen her. Vor mir konnte ich Matze sehen, wie er zwischen Pia und jemandem, den ich nicht kannte, hin und her taumelte. Pia befreite sich aus seinem Arm, der immer wieder über ihre Hüfte rutschte. Sie blieb stehen.

„Wie damals: Matze ist voll!“ Irgendetwas an dieser unveränderlichen Tatsache schien sie zu freuen.

„Siehst du die andern oft? Sind sie dir wichtig? “ Wir liefen nebeneinander her.

„Und wenn? Willst du es mir verbieten?“

Drei Jahre war es her, dass wir uns getrennt hatten. Wir hatten uns über ein Jahr nicht gesehen und fingen an Scheiss Silvester wieder mit Scheiss Streitereien an. Ich wollte das nicht. Ich wollte schlichten und fasste nach ihrem Arm.

„Fass mich nicht an!“

„Pia! Warte!“ Wieder stand ich nachts in einer Straße meiner Heimatstadt und rief wieder die gleichen Worte wie vor drei Jahren. Und wieder blieben sie zwecklose. Sie lief weiter und ich hinter ihr her. Während ich lief und spüren konnte wie der Schneematsch durch die Nähte meiner Schuhe drang, kam es mir so vor, als ob es genau diese Straße vor drei Jahren auch gewesen wäre, als ob sie auch diesen Mantel und diese Mütze getragen hätte. Ich lief langsamer. Letztes Mal hatte ich sie eingeholt. Der Streit hatte dann die ganze Nacht gedauert, bis wir den Mut aufgebracht hatten uns zu trennen. Ich lief so, dass der Abstand zwischen uns immer gleich groß blieb. Pia machte dasselbe mit der Gruppe vor ihr, die grölend Richtung Altstadt lief. Die Laternen warfen gelbes Licht auf den Schneematsch. Zwischen den Lichtkegeln wurde Pia zu einer hohen, schwarzen Gestalt und gelb und wieder klar und wieder Pia, wenn sie unter den Laternen durchkam. Das Kopfsteinpflaster war glitschig. Ich lief und rutschte und spürte das Eiswasser zwischen meinen Zehen und hielt ihre eckigen Schultern mit meinem Blick fest. Erst als sie abbog um der Gruppe vor uns in die Gasse zur Brücke zu folgen, lief ich schneller. Um nicht auszurutschen, trat ich die Fersen noch fester auf den Boden. Dreck und Schnee und Split spritzten an meinen Hosenbeinen hoch.

Als ich um die Ecke bog, stand sie am Brückenkopf. Sie schaute zu mir. Ich ging zu ihr und blieb vor ihr stehen.

„Ich will nicht streiten.“

„Ich auch nicht.“

„Bleibst du länger?“

„Morgen muss ich zurück.“

„Achso.“

„Wollen wir versuchen, für heute gut miteinander zu sein?“

„Ja. Hast du nasse Füße?“

„Ja. Die Schuhe hast du mal ausgesucht.“„Scheisse.“

„Die waren mal gut.“

„Vor drei Jahren vielleicht.“

„Rauchen wir noch eine, bevor wir zu den anderen…?“

Wir stellten uns dicht an die Hauswand um den Wind abzuhalten. Überall knallten bereits Böller, Raketen pfiffen. Bloß unsere Gasse war für den leer. Wir sogen an den Zigaretten und schauten auf das Licht der Raketen, die am Himmel explodierten und sich in den Fenstern spiegelten. Dann schlugen die Glocken. Es war null Uhr. Das eine Jahr vorbei, das neue noch nicht geboren. Wir bewegten uns nicht. Ohne zu sprechen, hörten wir auf die Geräusche um uns herum. Alles hallte durch die Gasse. Die Schläge der Explosionen wurden dichter und wir hörten bald nur noch einen durchgehenden Knall. Pia nahm mich an der Hand und zog mich weg.

Die Brücke war gestopft voll. Sie winkte mit einer Hand in Richtung Brückenmitte und zog mich mit der anderen zwischen die Körper der Silvesterparty. Wir quetschten uns durch. Ihre Hand rutschte mir weg. Ich folgte ihrer Mütze. Die anderen wedelten mit Wunderkerzen, umarmten sich und schrien sich dabei Glückwünsche uns Ohr. Alles sollte besser werden. Gesundheit. Erfolg. Frieden auf der Welt. Ich machte mit. Umarmte lauter Menschen, mit denen ich aufgewachsen war, von denen ich nicht viel mehr wusste als ihren Beruf, den Beziehungsstatus, ob schon mit Kind oder noch ohne. Ich torkelte von verheiratet zu Single, von Ingenieur zu Grundschullehrer, von Ärztin zu Architektin zur Mutter mit drei Kindern. Von Sanderstrasse 8 zu Am Dallenberg 307 dritter Stock mit Parkett und Balkon — und allen rief ich den gleichen Satz ins Ohr: „Ich wünsche dir viele Probleme!“

Endlich kam ich bei Pia an. Ich hatte ihren Weg durch die Gruppe von Arm zu Umarmung verfolgt. Als ich vor ihr stand fiel mir nicht mehr ein, wieso ich sie so dringend hatte in den Arm nehmen wollen. Ein Eiszapfen steckte in meinem Kopf, durchbohrte meine Gehirnlappen und von ihrem Gesicht bröselten die Erinnerungen ab, bis es mir ebenso fremd war, wie das von allen anderen. Ich starrte sie an und suchte nach einem Beweis für das Gegenteil: irgendeine Bewegung, ein Geruch, etwas, das immer noch dem Menschen entsprach, den ich geliebt hatte oder von dem ich geglaubt hatte ihn zu lieben, oder den ich in meiner Erinnerung zu lieben versucht hatte — sie lächelte und umarmte mich.

„Ich wünsche dir ein Jahr ohne Sorgen. Pavel. Mein Pavel.“ Dann ließ sie mich los.

Matze hing über der Brüstung und kotzte in den Main. Ich lehnte mich neben ihn.

„Frohes Neues, Vagabund. Ich sage dir,“ er spülte sich den Mund mit Sekt aus, „das letzte Jahr war wie Laufen auf Treibsand. Keine Ahnung wie sich Treibsand anfühlt, aber so war mein Jahr.“

Gegen ein Uhr waren wir wieder in der Wohnung. Ich war sofort ins Bad und hatte meine Füße in der Badewanne in heißes Wasser gehalten. David hatte mir Socken gegeben und ich hatte meine Schuhe mit Zeitung ausgestopft und auf die Heizung in der Küche stellen dürfen. Matze schlief im Bett von Maja und David. Wir hatten ihn kaum mehr nach oben bekommen. Neue Leute aus der Nachbarschaft oder einfach von draußen waren dazugekommen. Den Tisch und das Sofa hatten wir beiseitegeschoben und jetzt tanzten alle. Ich tanzte eine Weile mit. Dann ging ich in die Küche und bereitete ein Tablett mit Gläsern vor. Jedes Glas füllte ich mit Rum und Cola und warf Limetten dazu. Rum und Cola zu gleichen Teilen. Dann trug ich das Tablett ins Wohnzimmer.

„Wer hat Rum bestellt?“ Schrie ich und gleich wurden mir die Gläser entrissen. Ich wartete, dann sammelte ich die Gläser wieder ein. Wenn sie noch nicht leer waren, sollte ausgetrunken werden. Wieder bereitete ich eine Runde vor und trug sie ins Wohnzimmer. Das nächste Mal füllte ich die Gläser mit Sekt. Und das Mal darauf brachte ich Wodka-Shots. Um drei Uhr kam die Polizei zum ersten Mal und um fünf löste sie die Party endgültig auf. Wer nicht gehen wollte, schlief bereits irgendwo. Maja lag neben Matze im Bett, David lag auf dem Teppich davor und auf einem Sessel, den Mantel über den Oberkörper geworfen Pia. Ihre Beine knickten am Sesselrand zur Seite weg. Den Kopf lehnte sie gegen die Rückenlehne — auch wenn sie dafür einen Buckel machen musste.

Auf dem Sofa lag ein Paar, das ich nicht kannte. Die Wohnung war völlig verdreckt. Ich ging durch die Wohnung. Tabakreste, Aschebrösel, Zigarettenstummel waren überall. Leere Flaschen, Teller mit Resten. Das Sofa hatte Bier — und Weinflecken. Die Kissen lagen in Pfützen aus Alkohol und Schneematsch auf dem Boden. Die Küche war ein Massaker aus Tellern, Flaschen, Gläsern und Essensresten. Ich entspannte mich. Die Musik war aus, die Tür zu und ich war als einziger wach. So hatte es immer ausgesehen, wenn wir gefeiert hatten. Jetzt war der Lack wieder ab. Das hier war normal. Im Bad, neben der Kloschüssel: der obligatorische See aus Erbrochenem. Irgendwer hatte Handtücher darübergelegt. Dennoch, auch wenn die Wohnung dreckig war, das Sofa einen neuen Bezug brauchte und Maja vermutlich nie wieder eine Party ausrichten würde — etwas fehlte. Ich stand in der Tür zum Schlafzimmer. Maja schlief auf der Seite, ihr Kleid war verrutscht. Ihr Arm hing über den Bettrand. Unter ihr, das Gesicht knapp unter ihren Fingern, lag David. Auf dem Rücken, den Mund weit offen, die linke Hand unterm Hosenbund. Im Bett unter einem Berg aus Satin schnarchte Matze. Aus dem Flur fiel Licht auf die Haut von Majas Beinen und Davids Brust. Sie drängte bei beiden in Wulsten aus der Kleidung hervor. Ich schaute auf ihre Körper, auf die Haut und stellte mir vor, wie sie die Party vorbereitet hatten. Sie hatten geputzt, Staub gewischt, gesaugt, Kerzen aufgestellt, das Buffet gerichtet — vielleicht hatten sie sogar den Lacktisch neu gekauft oder die Lampe neben dem Sofa. Vielleicht war die Bettwäsche aus Satin neu: beim Blick ins Schlafzimmer sollte der der Stoff ein paar Geheimnisse versprechen, die Potenz der Gastgeber bezeugen. Ich konnte sie vor mir sehen, wie sie diskutierten ob die Party ein Motto haben sollte. Majas Kampf mit dem knappen, jetzt viel zu engen Kleid. Davids Wut über das Hemd, das seine Bauchringe abschnürte. Plötzlich wusste ich was mir fehlte: es war zu wenig Dreck. Zu wenig Verwüstung. Sobald der Schmutz aufgewischt und die Flaschen aufgeräumt waren, würde die Wohnung wieder glänzen. Die falsche Oberfläche wäre wieder intakt, die Wirklichkeit, außerhalb der vier Wände, bliebe zur Illusion verstümmelt ausgesperrt.

Ich machte einen Schritt ins Zimmer. Sie reagierten nicht als ich ums Bett herumging. Ich zog die Decke von Matze. Ich zupfte sein Sakko zur Seite. Ich griff in die Innentasche und nahm die Geldklammer raus. Ich zählte mehrere Scheine ab und steckte sie ein. Den Rest behielt ich in der Hand. Langsam ging ich von ihm weg. Bei David blieb ich stehen. Ich kniete mich neben ihn und zog an seinem Gürtel. Ich löste die Schnalle ohne, dass er sich bewegte. Mit dem Gürtel band ich seinen linken Arm am Bettpfosten fest. Er reagierte nicht. Wie tot lag er auf dem Rücken, der Körper des Freundes, von dem ich nichts mehr wissen durfte, weil Vertrautheit zu Schwäche, weil Nähe bedrohlich geworden war. Ich knöpfte sein Hemd auf und danach seine Hose. Aus der Küche holte ich eine volle Sektflasche. Ich ließ den Korken knallen. Niemand rührte sich. Ich trank ein paar Schlucke ab und legte ihm die Flasche zwischen die Beine. Unter seinem Arsch lief der Sekt aus. Dann machte ich einen Schritt über ihn weg und setzte mich neben Maja aufs Bett. Sie lag vor mir, die Haut an ihrem Hals fiel zur Seite. An meinem Schlüsselbund war ein kleines Taschenmesser. Ich hatte es nie benutzt, jetzt holte ich es raus und öffnete die Klinge. Ich nahm den Saum von ihrem Kleid. Der erste Schnitt ging leicht. Ich folgte dem Kleid nach oben und zog die Klinge an ihren Beinen entlang. Sie blieb ebenso tot liegen. Ich schnitt weiter. Immer mehr kleine und große Löcher in den Stoff. Ein Netz aus schwarzen Streifen umspannte ihren Körper als ich aus dem Zimmer ging.

Ich ging ins Bad. Ich schwitzte stark. Im Bad war es warm. Die Fußbodenheizung lief. Es stank. Ich musste pinkeln. Danach wusch ich meine Hände unter heißem Wasser. Ich wusch auch meine Arme und mein Gesicht bis meine Haut glühte.

Im Wohnzimmer verteilte ich den Rest von Matzes Geld auf die Taschen des Pärchens auf dem Sofa und weckte dann Pia. Sie war sofort wach. Ohne zu sprechen zogen wir unsere Mäntel und Schuhe an und verließen die Wohnung.

Es regnete Fäden aus Eis und Schnee. Ich sagte, dass ich ein Taxi gerufen hätte. Bis es kam, standen wir im Hauseingang. Ich hatte meinen Arm um sie gelegt.

„Du fährst morgen wieder?“

„Willst du mit?“ Ich wartete auf ihre Absage aber sie sagte nichts. „Wir fahren zu dir, du packst, was du für eine Woche brauchst, ich hole meinen Kram und sammle dich wieder auf. Wir nehmen den ersten Zug und sind um elf in Hamburg.“ Sie sagte immer noch nichts.

Als das Taxi kam, küssten wir uns. Wir stiegen ein und sie nannte dem Fahrer ihre Adresse. Während der Fahrt schwiegen wir. Meine Hand lag zwischen uns auf dem freien Sitz. Kurz bevor wir in ihre Straße abbogen, legte sie ihre dazu.

„Abgemacht? In zwanzig Minuten bin ich wieder hier.“

Sie schaute mich an, ein Bein bereits auf der Straße.

„Ja“, sagte sie, drückte meine Hand und stieg aus.

Mit dem Taxi fuhr ich zur Wohnung meiner Eltern. Wir hatten zusammen frühstücken wollen. Die Woche mit Pia war mir wichtiger. Trotzdem lag mir ein Stein im Bauch als ich meinen Rucksack nahm und die Tür hinter mir abschloss. Egal wie leise ich gewesen war, sie hatten mich bestimmt gehört.

Ich warf mich ins Taxi. Während der Fahrt redete ich ohne Pause. Ich erzählte und erfand irgendwelche Geschichten: von Hamburg, von der Reeperbahn, Kasinos, vom Theater, von Auftritten auf großen Bühnen — nichts davon, keiner dieser Erfolge war geschehen. Ich log und konnte nicht damit aufhören. In der Straße von Pia wurde ich still. Der Fahrer hielt auf meine Bitte hin direkt vor ihrer Haustür. Der Motor war aus. Regen und Eis klatschten auf die Scheiben und auf die Karosserie. Nichts geschah.

Ich fragte, ob ich rauchen dürfte. Zur Antwort zückte der Fahrer ein Päckchen Zigaretten und schnippte mir eine entgegen. Die Fenster waren auf beiden Seiten einen Spalt breit geöffnet. Der Rauch zog ab. Tropfen fielen auf meinen Arm und auf das Leder an der Innenseite der Tür. Pia kam nicht. Die Anzeige im Taxi zeigte fünfundvierzig. Ich warte bis fünfzig, sagte ich mir. Ich hatte Matze knapp vierhundert Euro geklaut. Davon würde ich die Tickets für Pia und mich kaufen. In Hamburg würden wir Essen gehen, ich wusste schon wo. Dann Kino und abends nach Altona oder auf die Reeperbahn und vielleicht noch einen Tag in die Therme. Die Rückfahrt würde ich ihr auch zahlen.

„Sollen wir noch warten? Mir macht’s nichts…nur…“, die Anzeige stand bei einundfünfzig.

„Eine Zigarette noch. Dann kommt sie.“

Sie kam nicht. Die Fenster ihrer Wohnung blieben auch dann dunkel, als ich klingelte. Kein Anruf, keine Nachricht. Nichts. Wir fuhren zum Bahnhof. Als ich bezahlen wollte, hielt der Fahrer meine Hand fest: „Trotzdem, ein frohes Neues Ihnen.“

Für das „trotzdem“ hätte ich ihn anspucken können. Ich zahlte und gab fettes Trinkgeld obendrauf.

Mit einem Kaffee stand ich am Bahnsteig. Alles um mich roch so vertraut, so sehr nach Heimat, der Regen, die Kälte, dass ich hätte heulen können. Ich hielt aus, bis ich im Zug saß. Dann legte ich mir den Mantel übers Gesicht schnüffelte nach den Resten von Pias Parfüm und ließ Tränen und Rotz laufen. Erst in Hamburg wachte ich wieder auf. Die Sonne schein, als ich über die Elbbrücken fuhr. Die Stadt glänzte. Das neue Jahr winkte mir über den Fluss hinweg zu.

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