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Gerald Raunig. Nach der Audienz

syg.ma team28/11/21 19:511.1K🔥


Fragmentarische Abschlussakte After Audience, 9. Juni 2018

Gerald Raunig

1 Was tun?

1902 verhandelt Wladimir Ilich Lenin im letzten Abschnitt seines einschlägigen Textes „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“ ein Problem, das die allgemeinere Frage nach der politischen Organisierung mit dem „‚Plan‘ einer gesamtrussischen politischen Zeitschrift“ verbindet. Er bringt diesen grossen Zusammenhang mit einer Frage auf den Punkt: „Kann eine Zeitung ein kollektiver Organisator sein?“ Ungefähr 30 Jahre später erklärt Walter Benjamin: Die Arbeit des „Autors als Produzenten“ wird niemals nur die Arbeit an Produkten, sondern stets zugleich die an den Mitteln der Produktion sein. Mit anderen Worten: seine Produkte müssen neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion besitzen. 100 Jahre nach Lenin schreibt schliesslich das feministische Kollektiv Precarias a la Deriva in der Übersetzung von Birgit Mennel: „Um eine Logik der Sorge in Gang zu bringen, um dem ‚Rette sich, wer kann‘ und den neuen Opportunismen zu entfliehen, müssen soziale Bande geschaffen werden, es müssen Verbindungen, Räume und Projekte hervorgebracht werden, die das Kollektive begünstigen.“

Diese Suche nach neuen sozialen Banden, wie sie die Precarias betonen, die organisierende Funktion Benjamins, Lenins Frage nach der kollektiven Organisatorin stellen sich heute vor allem als Frage nach der Verkettung von sozialen Zusammensetzungen und sozialen Medien, als ungefügige Komposition der zerstreuten Komponenten von sozialen, konkreten und abstrakten Maschinen.

2 transversaler Intellekt

Für ein neuerliches Denken dieser ungefügigen Komposition braucht es zunächst eine ganz andere Vorstellung von Wissensproduktion und Intellektualität, als sie zumindest im ganzen langen 20. Jahrhundert in Europa vorherrschend war. In der Begrifflichkeit des Konferenztitels “After Audience” formuliert können wir sagen, dass die Audienz des Monarchen-Intellektuellen, sei sie live oder medial vermittelt, nicht ausreichende Bedingung für eine Transformation sozialer und politischer Zusammensetzung sein kann. Die Trennung des Audienz haltenden Redners von seinem Surround, nun unter dem Namen audience, trennt den Intellekt von den Maschinen der Wissensproduktion.

Es sind zunächst vor allem feministische Praxen, die bewusst Formen der kollektiven Wissensproduktion erprobten, vor und vor den Geschichten vom Tod des Autors. Und wenn es mich nicht trügt, gibt es heute Anzeichen der neuerlichen Auflösung der individuellen Autorschaft in die Richtung einer spezifischen Form von General Intellect im 21. Jahrhundert. Wir sehen also nicht nur die Notwendigkeit neuer Formen von politischer Zusammensetzung, sondern auch eine Entwicklung der technischen Komposition in eben diese Richtung. Internet und Social Media haben sicher die Naivität ihrer Freiheitsversprechen verloren, und doch sind sie beteiligt daran, die monströse Virtualität eines transversalen Intellekts möglich zu machen. Dieser dividuell-transversale Intellekt durchquert die menschlichen Individuen, die affektiven Ding-Dimensionen ebenso wie die technologischen Maschinen, ihre Flüsse wie ihre Ding-Komponenten.

3 Territorium

Bei all der Deterritorialisierung, die sich in Begriffen wie Dividualität und Transversalität angelegt findet, ist das Territorium des Produzierens und Zusammensetzens von zentraler Bedeutung: Es braucht eine soziale Mitte, ein Milieu, in dem sich ein Diskussionszusammenhang entwickeln kann. Es geht hier um Intensitäten, ihre Situierung in einem subsistenziellen Territorium. Dessen Rhythmen lassen die Zeit und die spezifischen Zeitzumutungen des maschinischen Kapitalismus porös werden. Nicht nur konkrete Orte der Berufsausübung, im Fall der Zeitung die Redaktion, sondern offene Milieus, in der die Vielheit der Sorgebeziehungen, von der die Precarias sprechen, erprobt werden und die es uns ermöglichen, uns zu situieren, zu intensivieren, zu versammeln.

4 Instituierung

Lenin schreibt 1902: „Von der Wichtigkeit der Vereinigung, von der Notwendigkeit, ‚zu sammeln und zu organisieren‘, sprechen jetzt ausnahmslos alle, aber in den meisten Fällen fehlt eine bestimmte Vorstellung davon, womit man beginnen […] soll. Alle werden sicherlich damit einverstanden sein, dass für die ‚Vereinigung‘ der einzelnen Zirkel, sagen wir der Bezirke einer Stadt, gemeinsame Einrichtungen notwendig sind, d.h. nicht nur die einheitliche Bezeichnung ‚Verband‘, sondern tatsächlich eine gemeinsame Arbeit, ein Austausch von Material, Erfahrungen und Kräften […].“ Sammlung, Organisierung, Zusammensetzung brauchen also gemeinsame Einrichtungen. Sie gehen einher mit Instituierung, der Schaffung neuer Formen von Institution, aber auch der Transformation der alten Institutionen. Es reicht nicht, den bürgerlichen Produktionsapparat mit noch so revolutionären Inhalten zu beliefern. Es reicht nicht, den Produktionsapparat zu übernehmen, in den Institutionen neue, „radikale“ Direktionen einzusetzen. Es braucht die Veränderung des Apparats, die Transformation der Institution, die andauernde Invention der instituierenden Praxis.

5 Translokalität

Das susbistenzielle Territorium ist keine geschlossene Gemeinschaft, die über den Einschluss und Ausschluss von Individuen verfügt. Es fügt vielmehr immer neue dividuelle Komponenten zu seinem Gefüge hinzu. Und dennoch lauern immer Gefahren der selbstzufriedenen Schliessung, der Verkapselung. Wie lassen sich diese Prozesse verhindern? Wo und wie entstehen vorsichtige Formen feiner Deterritorialisierung des subsistenziellen Territoriums, der Sammlung in der Zerstreuung, der gleichzeitigen Entwicklung der abstrakten Maschinen mit den konkreten Maschinen?

Lenin schreibt: „Und ich bestehe nach wie vor darauf, dass man mit der Herstellung dieser tatsächlichen Verbindung nur beginnen kann auf der Grundlage einer gemeinsamen Zeitung, als des einzigen regelmäßigen gesamtrussischen Unternehmens, das die Ergebnisse der verschiedensten Arten der Tätigkeit summiert und dadurch die Leute anspornt, unermüdlich auf all den zahlreichen Wegen vorwärtszuschreiten, die zur Revolution führen.“ Nicht alle Wege konzentrieren sich auf Gesamtrussland, und sicher auch nicht auf Europa. Heute muss die Frage nach der Sammlung in der Zerstreuung mit dem Stichwort Translokalität beantwortet werden.

6 Technökologie

Die Milieus der konkreten und abstrakten Maschinen, der subsistenziellen Territorien und dividuellen Ströme lassen sich nicht nur über klassische Kollektivität in direkter Kommunikation denken, seien sie nun lokal oder translokal. Die Sorge-Ökologie der subsistenziellen Territorien ist immer auch angebunden an neue mediale Dispositive, an „soziale“ Medien als abstrakte Maschinen, sie sind damit auch Technökologien. Klassischerweise wird die Frage nach der Funktion von Medien für neue soziale Zusammensetzungen und soziale Bewegungen so beantwortet, dass Medien als Vermittlung eingesetzt werden, zur Verbreitung der Nachricht, als direkte Linie von den Wenigen, die die Aussage begründen, hin zu den Vielen, die von dieser Aussage erreicht werden sollen. Doch das Medium ist selbst Milieu, nicht sekundäres Mittel der Vermittlung. Es dient nicht einfach zur Vermittlung eines Inhalts, und selbst die Vorstellung eines viralen Mediums ist noch immer zu sehr von der linearen Vorstellung eines zu verbreitenden Contents geleitet. Es geht auch nicht um Milieus als Mikrosozialitäten, die durch soziale Medien unter die Lupe genommen, vergrößert und makroisiert werden. Die abstrakten Maschinen bilden sich nicht aus kleineren, konkreteren Maschinen, sondern entstehen gemeinsam mit ihnen.

Technökologien sind demnach die Verkettung von Ökologien der Sorge mit den Maschinen, gedacht als soziale Maschinen, aber auch als konkrete Apparate, vom Smartphone bis zur zukünftigen technologischen Umhüllung.

7 Techne als Subjektivierungsweise

Wenn die technische Neuerung oft konkret auf die Einführung neuer Apparate verweist — die Technik, die Benjamin vorschwebt, ist keineswegs eine abgegrenzte Sphäre von Mechanik und Apparatekunst. Durch Benjamins Technik-Begriff schimmert immer wieder der facettenreiche Begriff der griechischen techne durch, und auch die konkreten Vorschläge, die Benjamin beispielhaft in den „Autor als Produzenten“ einbringt, bilden ein Ensemble von technai, die eher wie kleine Vorschläge von Subjektivierungsweisen — Benjamin sagt Verhaltungsweisen — anmuten. Ver-haltungs-weisen, das sind die Bindeglieder zwischen der Haltung und den Verhältnissen, zwischen Subjektivität und Struktur. Passiv und aktiv zugleich, affektiv und affizierend, ungefügig, auf der Lauer und am Sprung der Weltveränderung, auf der Basis einer verkörperten Erfahrung und Erprobung der Verhältnisse.

8 After Audience

Benjamin stellt dem dramatischen Gesamtkunstwerk (als Anspielung an die Tradition von Richard Wagner und seiner faschistischen Nachfolge, auch so eine „dunkle trübe Höhle“) das Brechtsche dramatische Laboratorium gegenüber. Darin geht es nicht mehr um die gesamthafte Darstellung einer fiktiven Handlung mit den Mitteln aller künstlerischer Disziplinen zum Zwecke der möglichst weitgehenden Einfühlung und Überwältigung des Publikums, sondern um die Entdeckung von Elemente[n] des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung. Wenn das Audience als Figur überleben will, muss es eine solche Form annehmen, die wenn sie schon zuhört, das wohl auch in einer Form der Passion, der sozialen Reproduktion, der sozialen Maschinisierung tut. Sorge, soziale Bande, der Autor als soziale Reproduzent_in. Wenn Produzent_innen andere Produzent_innen zur Produktion anleiten, verschiebt sich der Blick vom Audience, vom Publikum, von der anonymen bürgerlichen Öffentlichkeit, vom Imperativ der Partizipation, von erzwungenen Mit-machen hin zur Produktion. Wenn das epische Theater die Exponierung der Anwesenden im konkreten Raum des dramatischen Laboratoriums sehr wörtlich nahm, als Verteilung der Körper, Dinge und Sozialitäten im Theater, betreiben die abstrakten Maschinen der zerstreuten Produktion einen maschinischen Präsentismus der Anwesenden in immer neuen Medien, realen Plätzen und virtuellen Welten.

Für die Forcierung einer solchen Technökologie ist es erstens notwendig, grundsätzlich offene und inklusive technische Strukturen, Apparate und Umhüllungen zu erfinden. Zweitens wird es auch in der Zukunft darum gehen, die Besitzverhältnisse dieser Strukturen im Auge zu behalten. Drittens sollten technökologische Subjektivierungsweisen in den Mittelpunkt rücken, die sich in ihnen und mit ihnen und um sie herum entwickeln: anstelle von Hass, Häme, Neid, Sozio-Narzissmus, individualistischer Abgrenzung und Isolation inmitten der Sozialität: Technökologien, die das Milieu produzieren und in militanter Weise preservieren, das subsistenzielle Territorium, den Surround.

Die Figur dessen, was nach dem Audience kommt, ist wie gesagt passiv und aktiv zugleich, affektiv und affizierend. Audiens, zuhörend und zugleich resonierend und konsonierend, offen für das Mit-Schwingen, für den Austausch. Ein solches Mitschwingen müssen wir bedenken, wenn wir an neuen sozialen Medien und neue Publikationsformen arbeiten, an neuen Techno-Gadgets und flachen Umhüllungen, an der Subjektivierungsweise in der Mitte mit den Maschinen. Die Frage, die sich für uns nach wie vor aufdrängt, ist jene nach der Ökologie der Sorge, die dieses Mitschwingen erzeugt, diese Mitte, dieses Milieu, diese materiellen Mittel. In den Worten der Precarias: „… der eindrucksvollste Aspekt des praktischen Wissens, das die ArbeiterInnen im Streik zur Anwendung bringen, betrifft die Fähigkeit, dermassen starke materielle Verbindungen zu stiften, dass die ArbeiterInnen schliesslich gegenüber der von den ArbeitgeberInnen ausgeübten ökonomischen Erpressung unempfänglich werden … Die Gemeinschaften der ArbeiterInnen werden daher nicht nur durch symbolische Allianzen gefestigt, sondern auch durch eine ganze Reihe materieller, vergemeinschafteter Mittel.“

Nach dem Sturm ist vor dem Sturm. Vor und vor dem Sturm.


***

Gerald Raunig arbeitet am eipcp (European Institute for Progressive Cultural Policies), u.a. in der Redaktion der multilingualen Publikationsplattform transversal texts, sowie als Professor für Philosophie an der Zürcher Hochschule der Künste.

Der Text wurde zuerst auf der Website “transversal texts” veröffentlicht, 12 2021

Sonya Novichkova
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